Wir brauchen solidarisch-barmherzige Gerechtigkeit

Predigt zum 25. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A - 2017

Schriftstelle:
Evangelium: Mt 20,1–16a

Liebe Schwestern und Brüder,

„Hand aufs Herz“: Finden Sie es gerecht, wie der Weinbergbesitzer mit den Tagelöhnern umgeht?
Finden Sie es gerecht, dass jene, die den ganzen Tag – noch dazu in der Gluthitze gearbeitet haben – genau den gleichen Lohn bekommen, wie jene, die erst vier oder eine Stunde vor Feierabend die Arbeit aufgenommen haben?

Ich bin sicher: auf dem ersten Blick verwirrt und verstört das Verhalten des Weinbergbesitzers.
Und bei manchen erhebt sich innerer Widerstand.
- Wo bleibt die Anerkennung unterschiedlicher Leistung?
- Neigen wir nicht eher dazu den Satz zu bejahen: „Leistung muss sich wieder lohnen!“ ?

Doch der Weinbergbesitzer im heutigen Evangelium verfolgt eine andere Logik.

Bedenken wir:
Mit den Tagelöhnern, die gleich am Morgen bei ihm Arbeit fanden, handelte er einen für die damalige Zeit durchaus gerechten und angemessen Tageslohn aus.

Doch auch jenen, die den ganzen Tag dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen, aber von anderen nicht eingestellt wurden, gibt er im Laufe des Tages die Chance, für ihn zu arbeiten.
Sie sollten sich nicht umsonst dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt haben. Sie sollen nicht umsonst und sorgenvoll den ganzen Tag auf Arbeit gewartet haben.

Er gibt ihnen, bis zur letzten Möglichkeit, die Gelegenheit, eine Arbeit zu finden.

Das ist doch schon mal beeindruckend.
Aber er geht noch darüber hinaus.

Bei der Bezahlung lässt der Weinbergbesitzer sich von der Überlegung leiten: Was brauchen die Menschen, um am diesem Tag gut über die Runden kommen zu können?
Und er spürt, wenn er ihnen nur eine der Arbeitszeit entsprechende Entlohnung geben würde, wäre es nicht gut, denn diese Tagelöhner hätten dann an diesem Tag nichts, was zum Lebensunterhalt, zu einem ‚auskömmlichen‘ Leben reichen würde.

Also entscheidet sich der Weinbergbesitzer auch den letzten einen Lohn zu kommen zu lassen, den sie zum anständigen, d.h. auskömmlichen Leben brauchen.

Was der Weinbergbesitzer für eine Gesinnung an den Tag legt ist die, die ich

solidarisch-barmherzige Gerechtigkeit
 
nennen will.

Es ist eine Gerechtigkeit, die sich nicht abhängig macht von dem, was jemand geleistet hat, sondern davon, was er oder sie zum Leben braucht.

Ist das utopisch?
Ist das unrealistisch?

Nun, es geht sicherlich an der herrschenden Realität in unserem Land und auch global vorbei.
Aber es ist nicht unrealistisch.

Ich möchte nur zwei Beispiele aus dem Christentum nehmen.

Die Apostelgeschichte berichtet von den Zuständen in der Urgemeinde.
Da heißt es: "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam." (Apg 4,32)
Hier wird einer Realität beschrieben, die es gegeben hat und die nicht umsonst und berechtigterweise als sogenannter „Urkommunismus“ bezeichnet wird.

In der Regel vom Vater des abendländischen Mönchstums, dem heiligen Benedikt lesen wir, dass es auch die Aufgabe des Abtes ist, dafür zu sorgen, dass jeder Mitbruder das erhält, was er zum Leben braucht.

Hier wird deutlich, dass es weder um eine leistungsgerechte Zuweisung geht noch um eine – scheinbar gerechte – Zuweisung nach dem Giesskannenprinizp, nach dem alle das Gleiche bekommen.
Die schwierige Aufgabe des Abtes war es, zu ergründen, was jeder einzelne seiner Mitbrüder ‚braucht‘, also, was er nötig hat. Und das sollte er bekommen.
Wir können diesen Grundgedanken in unsere heutige Zeit übertragen und weiterdenken.

Ich möchte da zwei Beispiele benennen:

1. Solidarische medizinische Versorgung
Wir erleben die Entwicklung einer Zwei-Klassen-Medizin, die sich auch aus dem derzeitigen Versicherungssystem von GKV und PKV ergibt. Tagtäglich können wir erleben, das die einen Leistungen erstattet bekommen, die Patienten, die gesetzlich versichert sind, nicht erhalten. Der Grundsatz ist hierbei nicht, was jemand nötig hat, sondern was nach derzeitigem medizinischen Stand sinnvoll ist und eine eine Art medizinische Grundversorgung darstellt.
Würden wir mehr danach gehen, was jede/r Einzelne braucht, müssten wir ernsthaft über einen Systemwechsel in der Krankenversicherung nachdenken, in dem alle gemeinsam in einen Topf einbezahlen, ob Arbeitnehmer, Angestellte, Beamte, Selbständige, aber auch jene, die ihren Lebensunterhalt durch Kapitalerträge sichern. Auch sie müssten solidarisch in die Sozialversicherungen einzahlen

2. Menschen müssen von ihrer Arbeit gut leben können
Dies bedeutet, dass unsere Gesellschaft dafür sorgt,  dass die Arbeit der Menschen ein auskömmliches Einkommen sichert.
Der Mensch lebt nicht, um zu arbeiten, sondern der Mensch arbeitet, um zu leben.
Dies bedeutet dass jene, die am Erwerbsleben teilnehmen, dadurch ihren Lebensunterhalt sichern können und nicht – trotz Vollzeitarbeit – noch Sozialleistungen des Staates in Anspruch nehmen müssen, um über die Runden zu kommen.
Denn: wenn die Arbeit einen menschenwürdiges Leben nicht mehr ermöglicht, dann ist etwas ziemlich faul in unserer Gesellschaft, während andere fleißig ihre Aktiendividende absahnen.
Gerade in diesem Punkt leben wir heute in einer neuen Phase der „sozialen Frage“.
Zurecht haben Menschen, wie Adolf Kolping auf die innere Beziehung zwischen Arbeit und Würde des Menschen hingewiesen.

Eine menschenwürdige Arbeit berücksichtigt – und das nicht nur im Hinblick auf die Entlohnung – das, was der Mensch zum Leben braucht.

Es gibt viele weitere Aspekte, die deutlich machen, dass Gerechtigkeit mehr ist als Leistungsgerechtigkeit, sondern von vielen anderen Faktoren abhängt – immer aber auch von der Frage, wie menschenwürdiges Leben möglich ist.

Wir stehen vor vielen sozialen Herausforderungen, die davon berührt sind:
- Kinderarmut
- Altersarmut
- Erwerbstätige, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, die sogenannten „Aufstocker“
- das Armutsrisiko von Alleinerziehenden und Familien mit Kindern

Das schlimmste soziale Problem unserer Gesellschaft stellt für mich heute weder die Kinderarmut noch die Altersarmut dar, auch nicht die prekäre Situation von „Aufstockern“.

Das schlimmste soziale Problem ist die Solidaritäts-Armut in unserer Gesellschaft.

Auch wenn die christlichen Kirchen an Bedeutung verlieren, der christliche Glaube besitzt eine innere Power, um unsere Gesellschaft menschenwürdiger zu machen.

Im heutigen Evangelium geht es um einen Paradigmenwechsel.
Nicht die Frage steht im Vordergrund: Was hast du geleistet und davon wird dein Lohn abhängen.
Sondern: was brauchst du, was fehlt dir, trotz all der persönlichen Anstrengungen, für dich selbst Verantwortung zu übernehmen?

Der heutige Gedanke aus dem Evangelium fasziniert mich, weil er den Bergriff „Gerechtigkeit“ so ganz anders buchstabiert, als es in unserer Gesellschaft oft geschieht.

Das heutige Evangelium macht deutlich: Gerechtigkeit bleibt hohl ohne Solidarität und berücksichtigt auch die Bedürftigkeit, um ein Leben in Würde führen zu können.

Welchen Beitrag können wir leisten?
Durch die Wahrnehmung demokratischer Rechte und Pflichten, aber auch durch ein lebendiges christliches Zeugnis haben wir die Werkzeuge an der Hand, etwas von dieser Güte Gottes, wie wir sie heute im Evangelium empfohlen bekommen haben, in unsere Gesellschaft hinein zu pflanzen.

Wir müssen uns dieser Power des Christentums, auch wenn es scheinbar in unserer Gesellschaft an Bedeutung verliert, bewusst werden und danach handeln.


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